
19.05.2025 - Allgemein
Deutschland steht vor einer der größten Herausforderungen seiner Geschichte: Der Fachkräftemangel spitzt sich zu. Zwischen 2020 und 2035 gehen Millionen Babyboomer in Rente – doch wer übernimmt ihre Arbeit?
Der Fachkräftemangel hat gerade erst begonnen. Was einst als „War for Talents“ im obersten Qualifikationssegment angefangen hatte, ergreift den Arbeitsmarkt in voller Breite. Familienunternehmen haben gute Chancen, gestärkt aus dieser Krise herauszukommen – wenn sie nicht darauf warten, dass die Politik ihnen die Lösungen liefert.
Als die Babyboomer noch so ziemlich am Anfang ihres Karrierepfads standen, wurde ihnen schon das Problem vorgehalten, das sie eines Tages sein würden. Ab Anfang der 1990er-Jahre wurde ihnen (und uns allen) vorgerechnet, dass der sogenannte Generationenvertrag nicht halten könne – vor allem nicht in den Jahren zwischen 2020 und 2035, wenn die geburtenstarken Jahrgänge (zwischen 1955 und 1969) in Rente gehen. Die Diskussion ging damals schon so hoch her, dass 1996 das Wort „Rentnerschwemme“ von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum „Unwort des Jahres“ gekürt wurde.
Jetzt ist es so weit, der demografische Umbruch hat begonnen. Allerdings steht dabei heute nicht das Rententhema im Vordergrund, sondern der Fachkräftemangel. Wenn viele fast gleichzeitig in Rente gehen, bleiben zu wenige, die die Arbeit machen können. Denn die nachfolgenden Jahrgänge sind bei Weitem nicht stark genug, um die Lücke zu schließen.
Aus Arbeitslosigkeit, für Jahrzehnte unser größtes volkswirtschaftliches Problem, wird Arbeitskräftemangel (oder Fachkräftemangel) – was einst als „War for Talents“ im obersten Qualifikationssegment begonnen hatte, ergreift den Arbeitsmarkt in voller Breite. Das Ausmaß der Herausforderung zeigte Ende 2021 eine Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB):
Demografisch bedingt, nimmt demnach das sogenannte Erwerbspersonenpotenzial ohne Zuwanderung bis 2035 um 7,2 Millionen, bis 2060 sogar um insgesamt 16 Millionen Arbeitskräfte ab. Knapp die Hälfte der bis 2035 klaffenden Lücke lasse sich durch eine Erhöhung des Anteils der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung schließen, sagt IAB-Forscherin Brigitte Weber: „Mit einer besseren Integration ausländischer Frauen in den Arbeitsmarkt, Erwerbsquoten deutscher Frauen, die mit denen der deutschen Männer übereinstimmen, sowie noch einmal deutlich höheren Erwerbsquoten Älterer ließen sich bis 2035 zusätzliche Potenziale von 3,4 Millionen Erwerbspersonen aktivieren.“ Für den verbleibenden Rest von 3,8 Millionen Arbeitskräften werde Zuwanderung benötigt, in der Größenordnung von 400.000 Beschäftigten pro Jahr.
Natürlich weiß die Politik darüber Bescheid. Spätestens in den 1980er-Jahren wurde sichtbar, dass ab den 2020er-Jahren ein massives demografisches Problem auftauchen würde. Seit Jahrzehnten gibt es deshalb immer wieder Gesetze und Initiativen, die Wirtschaft und Gesellschaft auf diesen absehbaren Umbruch vorbereiten sollen. Dazu gehören:
Die Politik hat also durchaus eine ganze Reihe von Schritten unternommen, um Land und Wirtschaft besser durch die Jahrzehnte des Arbeitskräftemangels und insbesondere des Fachkräftemangels zu bringen. Und die Ideen sind noch nicht erschöpft: Im Januar 2024 zitierte das „Handelsblatt“ aus dem Jahreswirtschaftsbericht von Wirtschaftsminister Robert Habeck, der Vorschläge enthält, wonach Anreize geschaffen werden sollen, dass ältere Arbeitnehmer freiwillig länger arbeiten. Und im Februar hat die CDU die sogenannte Aktivrente vorgestellt, bei der Rentner steuerfrei bis zu 2.000 Euro im Monat dazuverdienen dürften. Aber Fakt ist eben auch: Mission not completed. All diese Schritte reichen bei Weitem nicht aus oder sind eben noch gar nicht umgesetzt.
Insbesondere in zwei für den Arbeitsmarkt besonders relevanten Bereichen sieht die politische Zwischenbilanz schlecht aus. So schlecht, dass sich die Unternehmen wohl darauf einstellen müssen, dass die Politik nicht genug und nicht rechtzeitig liefert – und das weitgehend unabhängig von den Farben der
jeweiligen Regierungskoalition. Es sind die Bereiche Bildung und Zuwanderung. Bei der Bildung bereitet da nicht so sehr die Spitze Sorgen, sondern die Basis – die fehlenden Qualifikationen bei Jugendlichen aus bildungsfernen Haushalten. Hier klagen Unternehmen seit Langem über mangelnde Grundlagen bei Lesen, Schreiben und Rechnen.
Die starke Zunahme des Anteils von erst vor Kurzem ins Land gekommenen Kindern und Jugendlichen mit schlechten Deutschkenntnissen macht die Lage in den Schulen nicht einfacher. Und sie macht die Ergebnisse schlechter: Bei der im Dezember vorgestellten neuen PISA-Studie gab es kein Land, in dem die Leistungen von Kindern aus der ersten Zuwanderergeneration so weit unter dem Landesdurchschnitt lagen wie in Deutschland.
Dass der Staat innerhalb des heutigen Schulsystems Abhilfe schaffen kann, ist nicht zu erwarten – allein schon, weil in kaum einem Beruf heute schon so hoher Mangel herrscht wie bei Lehrern, von denen zudem ein sehr hoher Teil in den kommenden Jahren pensioniert werden wird. Die Lage an den Schulen dürfte also eher schlechter als besser werden; damit wächst die Kluft zwischen dem, was Berufseinsteiger schon können sollten, und dem, was sie tatsächlich können. Unternehmen werden sich also noch mehr als bisher selbst um die Bildung ihres potenziellen Nachwuchses kümmern müssen.
Für viele Unternehmen ist der Fachkräftemangel längst Alltag – Familienunternehmen haben jedoch durch ihren Heimvorteil neue Chancen, Talente direkt vor Ort zu fördern. Sie sitzen dort, wo ihre zukünftigen Beschäftigten zur Schule gehen, viele ihrer Mitarbeitenden haben die gleichen Schulen besucht, unter den gleichen Lehrern und Schultoiletten gelitten. Das Unternehmen kann Schule, Schüler und Eltern gleichermaßen ansprechen – und weit besser als der anonyme Konzern aus der Großstadt. Zum Teil geschieht das bereits: hier Trikots für die Schulmannschaft, dort Unterrichtsbesuche und Praktikumsplätze. Aber es wird mehr nötig – und auch möglich sein. Beispielhaft dafür ist ein Vorschlag aus dem Jahr 1888, wie Unternehmen in Zukunft in ihren Nachwuchs investieren können.
Damals beschrieb der amerikanische Sozialist Edward Bellamy in dem Buch „Das Jahr 2000“ eine utopische Welt, in der man nicht für die Schule, sondern für das eigene Leben lernt. Das Bildungs- und Ausbildungssystem erlaubte jedem, seine eigenen Fähigkeiten zu entdecken und zu erproben, welche auch immer sie sein mögen. „Es ist die Absicht, alle zu ermutigen, ihre etwaigen Talente, deren Vorhandensein erst durch einen Versuch festgestellt werden kann, auszubilden“, schrieb Bellamy.
Das entspricht gerade nicht dem heutigen Schulsystem mit seiner starken Fixierung auf Lehrpläne und Zeugnisse – es entspräche aber den Bedürfnissen von Familienunternehmen. Wenn sie Jugendlichen dabei helfen herauszufinden, was sie können und was sie wollen, können sie ihnen dann auch viele Möglichkeiten bieten, diese Ziele im Beruf zu erreichen.
Man muss dafür nicht das von Bellamy im 19. Jahrhundert ausgemalte staatssozialistische System übernehmen – aber Bellamys Perspektive: den Blick zum Schüler. Nicht in der Mehrzahl, als PISA-Schnitt oder pädagogisches Problem, sondern in der Einzahl: als individuelle Chance. Das ist mit zehn Millionen
Schülern in ganz Deutschland undenkbar – aber für ein paar Dutzend Heranwachsende am Ort sicherlich umsetzbar.
Die Perspektive auf den Einzelnen oder ein paar wenige kann Familienunternehmen auch dabei helfen, das zweite Problem zu lösen, an dem die Politik gestern, heute und morgen scheitert: die Zuwanderung von Arbeits- und Fachkräften. Sicher, das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz bietet Unternehmen bessere Chancen, Arbeitskräfte aus dem Ausland zu rekrutieren um dem zunehmenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken: gelockerte Vorschriften bei vielen Mangelberufen, mehr Flexibilität bei Qualifikationen und Sprachkenntnissen, Erleichterungen für Studierende und Familienangehörige.
Derzeit, nur wenige Monate nach seinem Inkrafttreten, ist noch nicht absehbar, wie stark der Effekt des neuen Gesetzes sein wird. Die benötigte Größenordnung von 400.000 zusätzlichen Arbeitskräften pro Jahr wird jedoch bei Weitem nicht erreicht werden. Und weitere Schritte in diese Richtung sind nicht in Sicht, da politisch extrem heikel: Schließlich könnte jeder Euro, den der Staat für die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte ausgibt, auch genauso gut in die Ausbildung von Jugendlichen oder in zusätzliche Kita-Plätze in Deutschland gesteckt werden.
Unternehmen müssen nicht gewählt werden. Und sie entscheiden nicht über das Schicksal von Millionen von Menschen, sondern agieren in einem wesentlich kleineren Rahmen. Zur Verdeutlichung: 400.000 Beschäftigte pro Jahr aus dem Ausland, das entspricht in etwa einem Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland. Bei einem Unternehmen mit 1.000 Beschäftigten geht es also um 10 Zuwanderer pro Jahr. Das sind keine Massen, die uns überfluten – das sind José und Rania, Igor und Kadiatou. Wenn Deutschland daran scheitert, die richtigen Zuwanderer anzuziehen, wird das Land wohl nicht untergehen, aber viele Wachstumschancen verpassen.
Ähnlich sieht das auch auf Unternehmensebene aus, wenn man sich entscheidet, auf Zuwanderung zu
verzichten. Und wohl auch, wenn man entscheidet auf die Maßnahmen der Politik zu warten. Es wird deshalb in vielen Fällen darum gehen, die für den jeweiligen Betrieb richtigen Formen der Zuwanderung und Integration zu identifizieren und zu praktizieren.
Der Fachkräftemangel zwingt viele Unternehmen dazu, klassische Aufgaben des Staates – wie Bildung oder Integration – selbst zu übernehmen. Das ist gerade für Familienunternehmen eine Chance, wie ein Beispiel aus der deutschen Wirtschaftsgeschichte zeigt. Denn schon vor mehr als 100 Jahren war die Bewältigung einer ganz ähnlichen Herausforderung ein Schlüssel zum Erfolg einiger der erfolgreichsten Familienunternehmen ihrer Zeit.
Damals waren Industrieunternehmen gezwungen, in großem Stil zum Vermieter zu werden: Die Fabriken wuchsen schneller als die Städte, Wohnungen in Standortnähe waren knapp und auch nicht unbedingt die Priorität der Politik. Mit dem Wohnungsbau auf die Behörden zu warten, hätte den Betriebsfrieden gestört und das Wachstum behindert. Also wurden die Familien selbst aktiv:
Sicher, es war kein Dauerzustand, keines der Unternehmen blieb lange im Wohnungsbau aktiv – es ging nur darum, ein Problem zu lösen, zu dem damals der Staat nicht in der Lage war. Und das wird auch in Zukunft eine Kernkompetenz von Familienunternehmen sein.
Der ursprüngliche Artikel stammt von Detlef Gürtler und wurde erstmals im INTES Unternehmerbrief, Ausgabe 1/2024, veröffentlicht. Für die Veröffentlichung an dieser Stelle wurde er von Melina Gammersbach redaktionell überarbeitet und erweitert.
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